Uff. Stau in Erfurt. Schon wieder piept der Zug, als ich meinen Waggon betrete – das war wieder auf die letzte Minute.
Die Tische im ICE sind nicht nur für Notebooks. Bis Frankfurt fahre ich mit zwei Kindern und Mama, die in die Schweiz wollen und lerne wie man das Ruebli und das Sternli im Malbuechli verbindet. Knuffig.
Frankfurt liegt in der Sonne, diesmal reicht der Aufenthalt für einen großen White Mocha bei Starbucks1. Dann wird es Zeit, Gleis 19 aufzusuchen. Ich brauche auf dem Bahnsteig satte 6 Minuten, um meinen Wagen zu erreichen.
Das ist der längste ICE, mit dem ich bislang gefahren bin. Vier Zugbegleiter stehen bereit, um den Fahrgästen den Weg zu weisen.2
Wie komme ich eigentlich auf die Idee, mir eine Bahnfahrt nach London anzutun? Diese Frage habe ich in den vergangenen Wochen häufig gehört – und auf meine Antwort mich erklären müssen.
Meine Antwort:
- es dauert genauso lange
- es kostet genauso viel und
- es ist viel komfortabler.
Im Detail: Fahrzeit – ich bin effektiv weniger als 8 Stunden unterwegs von Erfurt Hauptbahnhof bis direkt ins Herz von London (St. Pancras). Per Flugzeug wäre ich mindestens 80 bis 240 Minuten bis zum nächsten Flughafen unterwegs (Altenburg, Leipzig, Frankfurt). 60 bis 90 Minuten Check in. 90 Minuten Flug. 45 bis 120 Minuten vom Flughafen bis in die City. Wenn alles optimal passt klappt es auch in 275 Minuten, also unter 5 Stunden. Um eine solche Optimalkonstellation zu erreichen bin ich in der Vergangenheit meist unchristlich früh gestartet, oder durfte tief in die Tasche greifen – damit sind wir bei den Kosten:
Ich bezahle exakt 178 Euro mit dem London Spezial der Deutschen Bahn3 plus 2,50 Euro Platzreservierung. In der Vergangenheit habe ich es nicht geschafft, einen Flug zu buchen, der einschließlich aller Gebühren weniger als 80 Euro je Richtung kostete. Der Flug selbst war dabei in einem Fall sogar „gratis“. Das macht zusammen schon 160 Euro, dazu kommen dann noch einmal „Vor- und Nachlauf“, also die Fahrten von und zu den Flughäfen, was je nach Verkehrsmittel im günstigsten Fall (Stichwort Sowiso-Kosten mit dem PKW) noch einmal mit mindestens 60 Euro zu Buche schlägt. Summa summarum 240 Euro im besten Falle.
Der Komfort: ich fahre um zehn Uhr morgens nach dem Frühstück zum Bahnhof, steige in einen komfortabel eingerichteten Zug, in dem ich jederzeit überall hingehen kann – auch während des Starts zur Toilette wenn es konveniert. Ich sitze am Tisch und kann mich nach belieben mit meinem/r netten Vis-a-vis unterhalten und habe genügend Platz für meine Beine, Kaffee4, Wasser, Papiere, Notebook – sogar eine Steckdose und wenn ich möchte habe ich Musik oder Hörspiele aus dem Sitz. Statt eines Filmes gibt es schöne Landschaft (siehe Aachen) zu sehen und ausserdem ist mir Bahn fahren in der letzten Zeit immer sympatischer geworden.
Bis Köln war der Zug fast leer, ab Köln ist dann jeder Platz besetzt, es wird kuschelig eng. Das Bordpersonal hat gewechselt, die Lautsprecherdurchsagen sind viersprachig und das ergibt manchmal ulkige Situationen: „Hartelik welkom to ICE 14 to Brussels in de name of de Deutsche Bahn Rail Team.“
Schöne Landschaft beginn so richtig kurz nach Aachen, die Architektur der kleinen verstreuten Gehöfte aus Feldsteinen ist einfach nur schön – gut, die der Städte ist es nicht so sehr.
Schattenseite inzwischen: wir werden planmäßig 20 Minuten später in Brüssel eintreffen, in den verbleibenden vier Minuten werden wir den Eurostar nicht mehr erreichen höre ich von einer Mitfahrerin. Grund: wir können die uebliche Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht nutzen – auch gut, umso idyllischer ist die Strecke.
… hm, Wegen eines Zugunglück in Belgien fällt unser Eurostar, wie auch sein Folgezug aus. Mal schauen, wie es weiter geht.
Lüttich, (Leuk, Liege) beeindruckt mit einem lichten weißen Bahnhof, und einem dahinter beginnendem Rotlichtviertel.
Die Gerüchte verdichten sich – der Kanal wird nicht so planmäßig zu überbrücken sein, wie geplant.
Im trist verregneten Brüssel angekommen werden wir gleich zum CheckIn für den Eurostar gescheucht. Macht Sinn, vor der Schleuse hat sich schon eine lange Schlage gebildet. Ein älterer Herr der auf seinem sehr abgenutzten und beklebten Hartschalenkoffer sitzt, spricht mich auf englisch an – über das Wetter und ob wir wieder mit dem Bus fahren werden. Das macht Hoffnung.
😐
Dann wird es wie auf dem Flughafen. Wir bekommen eine gelbe Boarding-Card auf das Ticket geklebt und nach der Gepäck- und Zollkontrolle sammeln sich große Menschenmengen in einem endlosen aber komfortablen Wartesaal. Die Abfahrt ist für 19.11 Uhr avisiert. Um 18.50 kommt der Zug an und soll für 15 Minuten gereinigt und vorbereitet werden. Tatsächlich werden die Schleusen 20 Minuten später geöffnet. Diesmal piept der Zug nicht beim einsteigen. Der Eurostar ist offenbar genauso lang wie mein ICE in Frankfurt, er wirkt nur etwas geduckt. Im inneren ist er robust und ein wenig abgewetzt. Die Polster und Teppiche lassen ihn aber trotzdem recht heimelig wirken.
Eine Minute später schleichen wir aus dem Terminal Bruxelles-Midi. Unterwegs gibt es noch einige Verwirrung über unsere Ankunftszeit – Andrea wird jedenfalls leider eine Stunde zu früh in St. Pancras stehen.
Ach ja, und dann war da noch der Mann mit dem abgenutzten Koffer. Ich sitze neben ihm. Er studiert den Economist und stopft sich scheinbar völlig geistesabwesend zwei Pfeifen. Bei der nächsten Handbewegung vergewissere ich mich schnell noch einmal – ja, im Zug herrscht Rauchverbot. Nicht dass ich in diesem Fall etwas dagegen hätte – ich liebe Pfeifenrauch, aber im Tunnel wäre es keine gute Idee gewesen. Ich bin beruhigt: er steckt beide Pfeifen wieder in die Hosentasche. Kurz vor dem Ende des Tunnels spricht er mich an: er würde nur noch selten Menschen sehen, die – wie ich – über größere Strecken mit dem Füller schreiben. Es entspinnt sich daraus ein sehr interessantes Gespräch über Schmetterlinge und Nomenklatur. Er erzählte mir – zwischendurch auch eine Weile in Deutsch, er sei in Botswana und in vielen anderen Ländern der Welt gewesen und habe dort Schmetterlinge entdeckt. Über die Unterschiede in der Nomenklaturen in Botanik und Zoologie kamen wir zu Linné, der hoechtsselbst 250 verschiedene Schmetterlinge entdeckt – und beschrieben habe – aeusserst akkurat wie er betont – und das sei nicht selbstverstaendlich. Und ich finde etwas heraus, was die Botaniker sicher ein wenig neidisch machen duerfte – bei Erstbeschreibungen muessen Tiere nicht mehr lateinisch diagnostiziert werden. Er empfiehlt mir noch, die Linné-Gesellschaft zu besuchen, dort gibt es auch eine uralte Bibliothek …
Wir bedauern beide, dass der Zug schon laengst in St. Pancras steht – das Reinigungspersonal schickt uns auf den Bahnsteig.
Der Bahnhof nimmt mich gefangen. St Pancras International. London.
Dennoch laesst mich das eben so schnell abgebrochene Gespraech nicht gleich los. Andrea nimmt mich in Empfang und per Bus geht es die letzte Meile bis Temple.
Nun sind es doch fast elf Stunden geworden. Sollte die Luftfahrt etwa triumphieren?
Am Freitag werde ich meine Terminplanung machen und den Feinschliff für die Interviews. Und ein wenig Londoner Luft schnuppern.
- um hier mal meine Vorlieben auszubreiten [↩]
- auf dem Foto sind sie leider schon eingestiegen, es hat schon wieder gepiept [↩]
- in Bruessel treffe ich auf einen Fahrgast, der fuer ganze 49 Euro faehrt [↩]
- wenn ich möchte, gibt es hier den Kaffee sogar bis an den Platz und ich muß keine Lose, Parfums, Tabak oder Spirituosen kaufen [↩]
Über den Autor
im Podcast seit 2019
Blogger seit 2005,
Kaktusgärtner aus Passion - seit 1970,
... in einer Familie von Kaktusgärtnern seit 1822
... und Gärtner in der Blumenstadt Erfurt seit 1685
Super Blog, immer wieder interessant zu lesen!
Danke für den Hinweis – schon korregiert.
„Das macht richtig Hoffnung Dann wird es wie am Flughafen“ – du hast hier nen kleinen fehler 🙂