Erntedank und der 3. Oktober – CactusPodcast – 018
Erntedank – eine persönliche Kaktusgärtnergeschichte von Ulrich Haage
Heute ist Erntedankfest. Gestern war 3.10. – der Tag der neuen Republik an dem wir die Wiedervereinigung feiern.
Mir steht als Gärtner der Tag heute näher als der Feiertag gestern. Und darin steckt die Chance, das mal genauer zu beleuchten.
Am Erntedankfest wird gefeiert, was aus unserer Hände Arbeit entstanden ist.
Am dritten Oktober wird gefeiert, dass aus DDR und BRD wieder ein Land wird.
Das ist einfach!
Ist es so einfach?
Je genauer ich hinschaue, desto Nein.
Ich wäre heute kein Kaktusgärtner.
Vermutlich.
Heute geht es nicht um Kakteen, heute geht es um Ernte und Dank.
Erntedank und der 3. Oktober
Erntedankfest vs 3. Oktober
Das Erntedankfest feiert unsere Familie traditionell mit Früchten und Blumen aus unserem Garten, einem Erntekranz – und in diesem Jahr ist es eine wunderbare Erntekrone für die Erfurter Predigerkirche geworden.
Man könnte sagen: „wer fleißig war, der darf feiern. Und die anderen laden wir trotzdem ein.“
Aber dieser Vergleich hinkt.
Denn was ist mit den vielen Menschen, die keinen Garten haben, die, die nichts mit den Händen ernten können?
Sind die etwa nicht fleißig? Dürfen die nicht feiern?
Und am 3. Oktober? Machen wir da etwas?
Nein. Nichts Spezielles.
Und ja, wir sind dankbar für die Veränderungen in unserer Heimat vor 30 Jahren, auch wenn die mit unserer Hände Arbeit kaum etwas zu tun hat.
Eigentlich hat sich bei uns ja auch nichts geändert. *)
Eigentlich!
Bei anderen dafür viel.
Ich kenne Menschen, die haben viel verloren seitdem.
Und ich kenne andere Menschen, denen geht es viel besser, seit der Wende.
Wo komme ich eigentlich her?
Aber ich schau mal eine Runde größer. 30 Jahre zurück, noch ein bisschen weiter …
Ich habe meine Gärtner-Ausbildung abgeschlossen. Hatte meinen ersten Job, als Pflanzenschützer und habe viel mit Gift gearbeitet. In einer GPG (Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft). Unser Genosse Vorsitzender ritt manchmal auf seinem Pferd über die Felder. Das war ein Statement in der DDR. Denn sowas – hatte ich im Geschichtsunterricht gelernt – haben früher die bösen Junker gemacht, und die armen Bäuerlein mussten aufstehen und die Hüte abnehmen. In der real existierenden DDR war das eine Ansage. Und die Genossenschaftsbauern und -bäuerinnen haben sich die Mäuler zerrissen. Sowas geht einfach nicht!
Aber: der Genosse Vorsitzende hatte auch etwas erreicht!
Unsere Genossenschaft war ein Vorzeigebetrieb, weil es in der Spitze Leute gab, die wussten, wie man gute Geschäfte macht, wie man verkauft und wie man Leute motiviert. Klar haben alle über irgendwas gemeckert. Aber unterm Strich wurde gutes Geld verdient, und zwar auf allen Ebenen – selbst als Lehrling gab es da Möglichkeiten. Und heute glaube ich, das lag einfach daran, dass der Genosse Vorsitzende die Werke von Marx und Lenin gut studiert hat. Er hat den Kapitalismus begriffen und hat einen Weg gefunden, ihn im Sozialismus anzuwenden.
Oh oh!
DAS hätte ich damals übrigens nicht sagen dürfen.
Heute ist es nicht einmal ehrenrührig. Im Gegenteil, es schwingt darin ein Stück Respekt mit, für den „professionellen Grenzgang“ für die damalige Zeit.
Vielleicht war es auch eine sich leise ankündigende Wende in der DDR, aber das ist sicher zu viel gedacht.
Wie der Genosse Vorsitzende nach der Wende dastand, das weiß ich nicht. Ich traue ihm aber zu, dass er ganz solide auf die Füße gefallen ist.
Die dunklen Seiten
Ich kenne auch Menschen aus anderen Betrieben, die aus einer Leitungsposition mehr oder minder ins Nichts gefallen sind, deren Fachwissen von heute auf morgen nicht mehr gebraucht wurde, oder die aus anderen Gründen ihren Lebensinhalt verloren. Mal sind Betriebe liquidiert worden, ein anderes mal waren es Dinge, die Entscheidungen der dunklen DDR Geschichte um nichts nachstanden. Und manche davon sind bis heute weder geahndet, noch aufgearbeitet.
Einer der Gründe weswegen Geschichte nie unproblematisch ist, oder schwarz / weiß.
Und die Gegenwart auch nicht, denn auch jetzt im Moment gibt es Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, oder über den Rand kippen.
Das macht es nicht besser.
Und ich?
Was ist mit Menschen die nicht am Rand stehen?
Wo bin ich? Bin ich heute ein Gewinner?
Klares ja!
Ich weiß nicht, wohin mein Lebensweg mich ohne die Wende geführt hätte. Ich hab 1989 nicht wirklich einen Plan gehabt. Die meisten Menschen mit 19 haben das nicht.
Aber mir haben sich Möglichkeiten eröffnet, die es vermutlich nicht für so viele Menschen gibt. Möglichkeiten, die mir andere Menschen eröffnet haben. Als ich in der Städtischen Sukkulentensammlung mit Urs Eggli arbeiten durfte, oder zuvor in Kew Gardens mit David Hunt. Und es waren nicht nur die Begegnungen mit den großen Namen, eigentlich sind es immer die Menschen gewesen. Im Deutschland kurz nach der Wende hat es noch eine Rolle gespielt, dass ich aus dem Osten kam. Ich habe in Mainz eine sehr herzliche und großzügige Behandlung erfahren, an einem anderen Ort hat man mich richtig über den Tisch gezogen. Im Ausland spielte das weniger die Rolle. In Mittelamerika kannte 1991 kaum jemand die DDR, ich war Deutscher.
Dass ich mit 19 Jahren als erster Haage in New York lande und amerikanischen Boden betrete, dass war für mich ein Riesending. Hätte ich mir wenig vorher kaum träumen lassen.
Zuhause: Sorgen
Meine Eltern haben derweil dafür Sorge getragen, dass die Gärtnerei die Strudel und Untiefen im Strom der Wendezeit übersteht. Und Sorge meine ich durchaus auch bildlich. Denn es gab viele Sorgen. Die größte war: haben wir am Monatsende genügend Geld, um die Mitarbeiter zu bezahlen – und was müssen wir dafür tun.
Als ich zurück nach Erfurt kam war ich erschrocken, meine Eltern sind mit den Sorgen und der Arbeit gealtert. Sie haben sich nie beklagt. Aber sie haben mir das sorgen mitgegeben: sorge für die, für die du Verantwortung übernommen hast. Als in der letzten Woche ein noch recht frischer Mitarbeiter „Chef“ zu mir sagte bin ich kurz zusammengezuckt, das hat schon lange keiner zu mir gesagt.
Mir kam nochmal die Entwicklung nach der Wende in den Sinn. Alles, was wir erreicht haben, haben wir gemeinsam geschaffen. Meine Eltern und alle Mitarbeiter. Später kam auch ich dazu. Wir sind gemeinsam durch Höhen und viele Tiefen gegangen. Mit Sorgen genauso wie lachen. Die Sorgen sind weniger geworden. Gerade in diesem Jahr haben wir auf besondere Weise gelernt, wie wichtig es ist, füreinander einzustehen – gemeinsam. Und in diesem Jahr ist nochmal deutlich geworden, es sind nicht nur wir, unser Team. Es geht auch um die vielen Kakteenfreunde draußen auf der Welt, die uns vertraut haben, Verständnis und Geduld aufgebracht haben, hinter uns standen. Familien, Freunde, Nachbarn, auch Menschen, die wir noch gar nicht kannten, sind für uns Unterstützer geworden – in diesem Jahr – und sie haben uns unterstützt in den Jahren zuvor.
Damit wir das machen können, was unser Ding ist: Kakteen.
Und damit wir heute am 4. Oktober Erntedankfest feiern können und ich DANKE sagen kann für 30 Jahre gemeinsames Deutschland.
Ich weiß nicht, wo ich heute stünde, wenn es 1989 keine Veränderung in Deutschland gegeben hätte. Aber ich hoffe, ich kann etwas von dem vielen dass ich in den letzten 30, nein 50 Jahren bekommen habe zurückgeben.
Jetzt fasse ich meinen Gedanken von vorhin nochmal etwas anders.
Beide Tage sind so etwas wie Erntedank. Der Tag heute gilt für die letzten zwölf Monate. Der 3. Oktober für die letzten 30 Jahre – und vielleicht auch einfach für unser Ringen um Demokratie und Gerechtigkeit – und das dürfen wir tun im kleinen, wie wir es auch von den Großen erwarten.
Es hat uns niemand versprochen, dass das leicht sein würde, aber es lohnt sich!
Daran glaube ich!
Und ich freue mich.
Und Du?
-
bist Du glücklich und dankbar für das was in den vergangene 30 Jahren gewachsen ist?
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war es eine bittere Zeit für Dich, oder geht es Dir, Deiner Familie besser seither?
- haben wir, hast Du an Deinem Platz für mehr Gerechtigkeit sorgen können
Ich bin sehr gespannt auf Deine Rückmeldung
Schreib mir:
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… und: von wegen alles unverändert hier … *)
Natürlich hat sich auch bei uns vieles verändert. Das wichtigste: die Haltung Verantwortung für die Menschen zu übernehmen – da hat mein Vater Hans-Friedrich Haage schon zur DDR-Zeit genauso gehandelt, wie er es nach der Wende tat. Und ich bemühe mich, diesen seinen Werten zu folgen. Denn sie sind wichtig, damals wie heute.
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Über den Autor
im Podcast seit 2019
Blogger seit 2005,
Kaktusgärtner aus Passion - seit 1970,
... in einer Familie von Kaktusgärtnern seit 1822
... und Gärtner in der Blumenstadt Erfurt seit 1685